Viele Menschen in Deutschland verspüren mittlerweile ein wachsendes Unbehagen gegenüber kultureller und moralischer Pluralität: Laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung ist die Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland seit dem Jahr 2019 spürbar gesunken. Nur noch ein Drittel der Bevölkerung sieht religiöse Verschiedenheit als Bereicherung, auch die Zustimmung zu ethnischer Vielfalt hat deutlich abgenommen. [1] Toleranz wird zunehmend nicht mehr als Tugend, sondern als Zumutung empfunden – besonders dann, wenn sie als einseitig erlebt wird.
Der Philosoph Herbert Marcuse beschrieb in seinem Essay *Repressive Toleranz* dieses Problem bereits im Jahre 1965. Toleranz könne unterdrückend wirken, wenn sie auch jenen zugutekommt, die Freiheit und Gleichheit bekämpfen. Er plädierte dafür, demokratische Prinzipien zu verteidigen, indem man Intoleranz gegenüber ihren Gegnern übt. Diese Haltung erscheint als ein Widerspruch in sich, verdeutlicht aber das Paradox der Offenheit: Wer alles duldet, gibt sich selbst auf.
Immer mehr Menschen spüren instinktiv: Wo die Regeln des Zusammenlebens beliebig werden, zerfällt der soziale Vertrag. Eine Gesellschaft, die alles hinnimmt, gefährdet nicht nur ihre eigenen Werte, sondern duldet die Herbeiführung ihrer eigenen Zerstörung.
Mittlerweile zeigen sich im öffentlichen Diskurs zunehmend die Spannungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Konflikte entstehen insbesondere dort, wo verschiedene Wertesysteme aufeinandertreffen. Das betrifft etwa den Umgang mit Geschlechterrollen oder sexueller Identität in religiös geprägten Milieus. Wenn muslimische Eltern gegen einen homosexuellen Erzieher protestieren oder wenn in sozialen Netzwerken Diskussionen mit religiösen Minderheiten eskalieren, prallen unterschiedliche Vorstellungen von Würde und Moral aufeinander. Jede Seite beruft sich auf ihre Rechte und verlangt Toleranz – oft allerdings ohne sie selbst zu gewähren. Diese wechselseitige Intoleranz ist kein Randphänomen, sondern Ausdruck eines tieferen gesellschaftlichen Dilemmas: Wer Toleranz nur für sich beansprucht, zerstört ihren Sinn.
Hinzu kommt der moralische Relativismus, der die Idee allgemeingültiger Werte infrage stellt. Wenn Moral und Menschenrechte aber als kulturabhängig gelten, wird es schwierig, universelle Grenzen zu definieren. Das zeigt sich etwa in der Debatte über Frauenrechte innerhalb streng religiöser, patriarchalischer Gemeinschaften. Soll die Gesellschaft religiöse Praktiken tolerieren, die den westlichen Gleichheitsgrundsatz verletzen? Überwiegt das Recht auf individuelle Freiheit? Der Versuch, beide Positionen gleichzeitig zu vertreten, führt zu Widersprüchen, die kaum auflösbar sind.
Die Diskussion über Intoleranz ist daher mehr als eine Auseinandersetzung um Sprache oder Höflichkeit. Sie betrifft den Kern der politischen Ordnung. Demokratie lebt von Diskurs, aber die Auseinandersetzung braucht allgemeinverbindliche Regeln. Wenn alles als Meinung gilt, verliert Wahrheit ihren Wert. Wenn jeder sich selbst als Opfer versteht, wird Solidarität unmöglich. Toleranz darf deshalb nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Sie setzt Maßstäbe voraus, an denen sich Verhalten messen lässt – Maßstäbe, die in einer westlichen Gesellschaft wie Deutschland aus den Grundrechten, der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit abzuleiten sind.
Zugleich ist Intoleranz kein ausschließlich moralisches Versagen, sondern auch ein soziales Phänomen. Gruppen grenzen sich ab, um Identität zu stiften. Das Bedürfnis nach Abgrenzung ist menschlich, doch es zerstört das Fundament des Miteinanders, wenn es zur absoluten moralischen Waffe wird und kann in Feindseligkeit umschlagen, wenn ökonomische oder kulturelle Ängste hinzukommen. Der Rückgang der Toleranz in Deutschland ist somit auch ein Symptom zunehmender gesellschaftlicher Unsicherheit. Menschen, die sich selbst bedroht fühlen, sind weniger bereit, anderen Freiheiten zuzugestehen.
Toleranz verlangt mehr als bloßes Dulden, sie verlangt Unterscheidung. Sie erfordert Urteilskraft und Selbstdisziplin: die Fähigkeit, abweichende Meinungen zu ertragen, ohne sie zu übernehmen, und gleichzeitig klare Grenzen zu ziehen, wo Freiheit missbraucht wird. Sie bedeutet nicht, jede Überzeugung gleichwertig zu behandeln, sondern jene zu schützen, die auf der Achtung der Menschenwürde beruhen. Eine Gesellschaft darf nicht jede Form von Hass, Gewalt und Diskriminierung pauschal mit Berufung auf Offenheit rechtfertigen. Gleichzeitig darf eine freie Gesellschaft aber auch nicht jede starke Gegenrede als Hass brandmarken und im Namen des Schutzes der Freiheit vermeintlich diskriminierter Gruppen unterdrücken. Eine freie und offene Gesellschaft braucht die Fähigkeit, Spannungen auszuhalten, ohne sofort Verbote oder moralische Empörung zu fordern.
Eine Gesellschaft, die diese Balance verliert, gefährdet sich selbst. Die Herausforderung besteht darin, zwischen moralischer Beliebigkeit und ideologischer Verhärtung den schmalen Weg einer wehrhaften, aber offenen Demokratie zu halten.
Toleranz ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, das Freiheit sichern soll. Sie endet dort, wo sie zerstört wird.
Stand: Oktober 2025
[1] https://www.bosch-stiftung.de/de/presse/2025/09/vielfaltsbarometer-2025-die-akzeptanz-von-gesellschaftlicher-vielfalt-deutschland
Tags: Karl Popper Herbert Marcuse Repressive Toleranz Kritische Theorie Deskriptiver Relativismus Illiberalismus Liberalismus Populismus Demokratie Freiheit Gutmensch Bessermensch Social Justice Warrior Ammenstaat Nanny Staat Tugendterror Die Grünen Linke Progressive Woke Queer Trans Religion Islam Muslime Islamismus Multikulturalismus Talahon Friedrich Merz Stadtbild
Der Philosoph Herbert Marcuse beschrieb in seinem Essay *Repressive Toleranz* dieses Problem bereits im Jahre 1965. Toleranz könne unterdrückend wirken, wenn sie auch jenen zugutekommt, die Freiheit und Gleichheit bekämpfen. Er plädierte dafür, demokratische Prinzipien zu verteidigen, indem man Intoleranz gegenüber ihren Gegnern übt. Diese Haltung erscheint als ein Widerspruch in sich, verdeutlicht aber das Paradox der Offenheit: Wer alles duldet, gibt sich selbst auf.
Immer mehr Menschen spüren instinktiv: Wo die Regeln des Zusammenlebens beliebig werden, zerfällt der soziale Vertrag. Eine Gesellschaft, die alles hinnimmt, gefährdet nicht nur ihre eigenen Werte, sondern duldet die Herbeiführung ihrer eigenen Zerstörung.
Mittlerweile zeigen sich im öffentlichen Diskurs zunehmend die Spannungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Konflikte entstehen insbesondere dort, wo verschiedene Wertesysteme aufeinandertreffen. Das betrifft etwa den Umgang mit Geschlechterrollen oder sexueller Identität in religiös geprägten Milieus. Wenn muslimische Eltern gegen einen homosexuellen Erzieher protestieren oder wenn in sozialen Netzwerken Diskussionen mit religiösen Minderheiten eskalieren, prallen unterschiedliche Vorstellungen von Würde und Moral aufeinander. Jede Seite beruft sich auf ihre Rechte und verlangt Toleranz – oft allerdings ohne sie selbst zu gewähren. Diese wechselseitige Intoleranz ist kein Randphänomen, sondern Ausdruck eines tieferen gesellschaftlichen Dilemmas: Wer Toleranz nur für sich beansprucht, zerstört ihren Sinn.
Hinzu kommt der moralische Relativismus, der die Idee allgemeingültiger Werte infrage stellt. Wenn Moral und Menschenrechte aber als kulturabhängig gelten, wird es schwierig, universelle Grenzen zu definieren. Das zeigt sich etwa in der Debatte über Frauenrechte innerhalb streng religiöser, patriarchalischer Gemeinschaften. Soll die Gesellschaft religiöse Praktiken tolerieren, die den westlichen Gleichheitsgrundsatz verletzen? Überwiegt das Recht auf individuelle Freiheit? Der Versuch, beide Positionen gleichzeitig zu vertreten, führt zu Widersprüchen, die kaum auflösbar sind.
Die Diskussion über Intoleranz ist daher mehr als eine Auseinandersetzung um Sprache oder Höflichkeit. Sie betrifft den Kern der politischen Ordnung. Demokratie lebt von Diskurs, aber die Auseinandersetzung braucht allgemeinverbindliche Regeln. Wenn alles als Meinung gilt, verliert Wahrheit ihren Wert. Wenn jeder sich selbst als Opfer versteht, wird Solidarität unmöglich. Toleranz darf deshalb nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Sie setzt Maßstäbe voraus, an denen sich Verhalten messen lässt – Maßstäbe, die in einer westlichen Gesellschaft wie Deutschland aus den Grundrechten, der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit abzuleiten sind.
Zugleich ist Intoleranz kein ausschließlich moralisches Versagen, sondern auch ein soziales Phänomen. Gruppen grenzen sich ab, um Identität zu stiften. Das Bedürfnis nach Abgrenzung ist menschlich, doch es zerstört das Fundament des Miteinanders, wenn es zur absoluten moralischen Waffe wird und kann in Feindseligkeit umschlagen, wenn ökonomische oder kulturelle Ängste hinzukommen. Der Rückgang der Toleranz in Deutschland ist somit auch ein Symptom zunehmender gesellschaftlicher Unsicherheit. Menschen, die sich selbst bedroht fühlen, sind weniger bereit, anderen Freiheiten zuzugestehen.
Toleranz verlangt mehr als bloßes Dulden, sie verlangt Unterscheidung. Sie erfordert Urteilskraft und Selbstdisziplin: die Fähigkeit, abweichende Meinungen zu ertragen, ohne sie zu übernehmen, und gleichzeitig klare Grenzen zu ziehen, wo Freiheit missbraucht wird. Sie bedeutet nicht, jede Überzeugung gleichwertig zu behandeln, sondern jene zu schützen, die auf der Achtung der Menschenwürde beruhen. Eine Gesellschaft darf nicht jede Form von Hass, Gewalt und Diskriminierung pauschal mit Berufung auf Offenheit rechtfertigen. Gleichzeitig darf eine freie Gesellschaft aber auch nicht jede starke Gegenrede als Hass brandmarken und im Namen des Schutzes der Freiheit vermeintlich diskriminierter Gruppen unterdrücken. Eine freie und offene Gesellschaft braucht die Fähigkeit, Spannungen auszuhalten, ohne sofort Verbote oder moralische Empörung zu fordern.
Eine Gesellschaft, die diese Balance verliert, gefährdet sich selbst. Die Herausforderung besteht darin, zwischen moralischer Beliebigkeit und ideologischer Verhärtung den schmalen Weg einer wehrhaften, aber offenen Demokratie zu halten.
Toleranz ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, das Freiheit sichern soll. Sie endet dort, wo sie zerstört wird.
Stand: Oktober 2025
[1] https://www.bosch-stiftung.de/de/presse/2025/09/vielfaltsbarometer-2025-die-akzeptanz-von-gesellschaftlicher-vielfalt-deutschland
Tags: Karl Popper Herbert Marcuse Repressive Toleranz Kritische Theorie Deskriptiver Relativismus Illiberalismus Liberalismus Populismus Demokratie Freiheit Gutmensch Bessermensch Social Justice Warrior Ammenstaat Nanny Staat Tugendterror Die Grünen Linke Progressive Woke Queer Trans Religion Islam Muslime Islamismus Multikulturalismus Talahon Friedrich Merz Stadtbild