Germansplaining

Der Begriff Germansplaining beschreibt die Tendenz vieler Deutscher beliebige US-Amerikaner ungefragt über die Verhältnisse in den USA aufklären zu wollen.

Die ignorante Belehrung erfolgt dabei oft von Menschen, welche die USA entweder noch nie oder bestenfalls nur kurz besucht haben und ihre Informationen über das Land aus mehr oder minder zuverlässigen Medienberichten beziehen. Letztendlich ist es wahrscheinlich Ausdruck eines historisch bedingten Minderwertigkeitskomplexes. Der kleine Bruder Deutschland bemüht sich Zeit seines Lebens aus dem Schatten des größeren Bruders USA zu treten. Der große Bruder wird einerseits bewundert, anderseits aber auch beneidet und so kommt regelmäßig eine gewisse Schadenfreude über jeden vermeintlichen Mangel zum Vorschein.

Dieses Verhalten der Deutschen gegenüber US-Amerikanern ist so verbreitet, dass Die Simpsons dies in der im Jahr 2005 ausgestrahlten Folge The Heartbroke Kid (Episode 17 of Season 16) aufgriffen. Als die Simpsons aus Geldmangel temporär Untermieter beherbergen müssen, belehrt der aufgenommene deutsche Rucksacktourist diese ungefragt über die schlechte Volksgesundheit und das Gesundheitssystem der USA.

Während die Kritik an den Zuständen in den USA teilweise durchaus berechtigt ist, so ist es vor allem die ignorante Schadenfreude und Besserwisserei welche das Verhalten des Durchschnittsdeutschen sehr peinlich wirken lässt. Anstatt mit dem Finger auf die USA zu zeigen, sollten die Deutschen die dortigen Fehlentwicklungen lieber aufmerksam beobachten. Denn eine frühzeitige, objektive Analyse böte die Chance dieselben negativen Entwicklungen im eigenen Land zu vermeiden.

Einst belächelt, herrschen nun auch in Deutschland zunehmend Verhältnisse wie in den USA. Einige Beispiele:

Deutsche machten sich lange über die schlechte Bildung der US-Amerikaner lustig. Kurz nach der Jahrtausendwende kam dann der erste PISA Schock. Und im Jahr 2022 schnitten laut OECD die Schüler in Deutschland so schlecht ab wie noch nie zuvor. [1] Auch die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) des Jahres 2021 bestätigte erneut, dass die Grundschüler in Deutschland zu einem hohen Anteil nur ein unterdurchschnittliches Niveau erreichen. [2] Wie in den USA, so hat auch das Schulsystem in Deutschland massive strukturelle Mängel. In beiden Ländern ist das Niveau der Ausbildung primär abhängig von der Qualität der individuellen Schule und der betreffenden Lehrpersonen.
Die sogenannten working poor der USA machten in den Neunzigern in Deutschland Schlagzeilen. Der Deutsche schüttelte verständnislos den Kopf über die Zustände im Raubtierkapitalismus der USA. Doch das Phänomen von Menschen die trotz Arbeit nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen können, ist auch in der BRD mittlerweile traurige Realität. Die Zahl der sogenannte Aufstocker, also Menschen die trotz Vollzeitstelle mit ihrem Einkommen unter dem Existenzminimum liegen und daher Zuschüsse vom Staat bekommen, liegt relativ konstant bei fast einer Million. Ebenfalls belächelt wurden Menschen mit Zweitjob. Mittlerweile gibt es in Deutschland rund 3,5 Millionen Mehrfachbeschäftigte. [3]
Hire and Fire war ein Thema, welches vom Durchschnittsdeutschen ebenfalls meist mit Unverständnis kommentiert wurde. Heute hat Deutschland selbst ein leicht austauschbares Heer von Arbeitnehmern in Minijobs, Zeitarbeit, und generell prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Gig Economy boomt hierzulande ebenso wie in den USA.
In der Vergangenheit spotteten viele Menschen in Deutschland über das schlechte Krankenversicherungssystem in den USA. Allerdings wurden in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland die Kassenleistungen sukzessive gekürzt, während die Zuzahlungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Kassenbeiträge weiter stiegen. [4] Mitte des Jahres 2023 regte Bernd Raffelhüschen die in den USA schon lange übliche hohe Selbstbeteiligung auch für Versicherte in Deutschland an. [5] Und Menschen gänzlich ohne Krankenversicherung sind mittlerweile auch in Deutschland keine Seltenheit mehr [6] Bei steigenden Kosten verschlechtert sich gleichzeitig die Qualität der medizinischen Versorgung. So gab es im Winter 2022 nicht genug Betten für kranke Kinder und Ende 2023 war die Versorgung mit wichtigen Medikamenten eingeschränkt.
Die sich verschlechternde medizinische Versorgung trifft auf eine zunehmend schlechtere Volksgesundheit. Insbesondere die Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Herz- Kreislauferkrankungen, etc. nehmen auch in Deutschland zu. Der generelle Bewegungsmangel bei gleichzeitiger kalorischer Überversorgung ist auch in der BRD ein Problem.
Klassismus ist in Deutschland ebenfalls real. Mangelnde soziale Mobilität für bestimme Bevölkerungsgruppen, wie z.B. Menschen mit Migrationshintergrund ein weithin bestehendes Problem [7]
Tatsächlich gibt es in Deutschland ebenso wie in den USA ein absurdes Spannungsfeld zwischen real existierendem Rassismus und Diskriminierung einerseits und wirren Opfermentalitäten anderseits. Die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes ist hierzulande ebenso real. Lange kommentierten die Deutschen hämisch die gesellschaftlichen Grabenkämpfe und die Spaltung der USA. Spätestens seit Covid ist klar, dass die Lage in Deutschland nicht besser ist.
Zunahme der Polizeigewalt, sowie Gewalt gegen Polizei, Rettungskräfte und Krankenhauspersonal.
Gleichfalls in Deutschland zu beobachten ist das aus den USA bekannte Phänomen der School-to-Prison Pipeline. Schulabbrecher ohne vermarktbare Fähigkeiten/ Fertigkeiten und Motivation sind Menschen ohne berufliche Perspektive. In Kombination mit einer Machokultur der entsprechenden Bevölkerungsgruppen entsteht eine unzureichend qualifizierte Gruppe von Schulabgängern, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Kriminalität abdriftet.
Insbesondere in den letzten Jahren ist eine allgemeine Zunahme der Gewalt, insbesondere der Jugendgewalt zu beobachten. Messer sind in Deutschland zur beliebten Tatwaffe geworden. Allerdings sind auch Schießereien und sogar drive by shootings längst in Deutschland angekommen. [8]
Ebenso ein Problem ist die zunehmende Gewalt an den Schulen. [9]
Überlastete Gerichte und volle Gefängnisse sind in Deutschland seit Jahren der Normalzustand. So müssen Tatverdächtige mitunter aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil die Verfahren zu lange dauern. [10]
Armut großer Teile der im Durchschnitt finanziell gutgestellten Bevölkerung ist ebenso wenig ein rein amerikanisches Problem. Laut Destatis Pressemeldung vom 16. Mai 2023 war im Jahr 2022 etwa jede siebte Person (14.7 % der Bevölkerung) in Deutschland armutsgefährdet. Das sind 12,2 Millionen Menschen. [11]
Nicht zuletzt aufgrund einer vollkommen verfehlten Wohnungspolitik, wird Wohnungslosigkeit in Deutschland zu einem immer größeren Problem. Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge waren im Jahr rund eine halbe Million ohne Unterkunft. Die Zahlen sind insbesondere durch den Zustrom an Geflüchteten in den letzten Jahren stark gestiegen. [12]
Wer hämisch die neuste Fentanylkrise der USA kommentiert, verkennt geflissentlich das in Deutschland der Drogenkonsum ebenfalls steigt und synthetische Opioide immer stärker verbreitet sind. [13]
Zerfall der Familienstrukturen - Immer mehr Familien vernachlässigen ihre Kinder. Die Zahl der Kinder, die in Deutschland unter gefährlichen Umständen leben, wächst. Das Jugendamt verzeichnete z.B. im Jahr 2014 einen Anstieg um 8,2 Prozent. Immer mehr Familien brauchen eine intensive Betreuung. [14]
Psychische Erkrankungen weiter Teile der Bevölkerung werden in Deutschland zur Normalität. So hat sich z.B. die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen sich seit dem Jahr 2010 verdoppelt.
Staatsschulden Deutschlands bzw. Europas (durchschnitt bei 90% des BIP) haben noch nicht die Dimensionen der US-amerikanischen Defizite erreicht, aber das Fiasko um den Staatshaushalt 2024 zeigte, dass auch hiesige Politiker nicht verantwortungsvoll mit den Ihnen anvertrauten Einnahmen haushalten können.

Stand: Februar 2024

[1] https://www.berliner-zeitung.de/news/pisa-studie-deutsche-schueler-erreichen-bisher-schlechtestes-ergebnis-li.2165427
[2] https://www.telepolis.de/features/Grundschueler-in-Deutschland-koennen-kaum-lesen-kam-das-ueberraschend-9067772.html
[3] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/multijobber-working-poor-mehrere-jobs-arbeitswelt-100.html
[4] https://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitssystem-zuzahlungen-fuer-patienten-steigen-deutlich/24068012.html
[5] https://www.focus.de/finanzen/versicherungen/krankenversicherung/milliardendefizit-im-deutschen-gesundheitssystem-krankenkasse-mit-2000-euro-selbstbeteiligung-was-sie-dazu-wissen-muessen_id_186677879.html
[6] https://www.deutschlandfunk.de/krankenversicherung-immer-mehr-menschen-ohne-versicherung.1766.de.html?dram:article_id=482388
[7] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/schneller-schlau/armut-vererbte-bildungsnachteile-als-risiko-fuer-junge-erwachsene-18505823.html
[8] https://www.berliner-zeitung.de/news/mehrere-tote-bei-schuessen-in-hamburg-li.326047
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/eislingen-schuesse-aus-auto-heraus-abgefeuert-21-jaehrige-verletzt-a-e3baca91-d6f9-416e-866f-684704fd3ede
[9] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/toedliche-schuesse-in-offenburg-was-ist-an-deutschen-schulen-los-19305832.html
[10] https://taz.de/Personalmangel-bei-der-Justiz/!5874114/
[11] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/armut-in-deutschland-stark-gestiegen-101.html
[12] https://taz.de/Wohnungslosigkeit-in-Deutschland/!5971851/
[13] https://www.deutschlandfunk.de/fentanyl-opioide-drogen-krise-100.html
[14] http://www.welt.de/politik/deutschland/article146290891/Immer-mehr-Familien-vernachlaessigen-ihre-Kinder.html

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