Vor gut einem halben Jahrhundert wurde der Wandel der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft bisweilen als Lösung aller Probleme angepriesen. Die harten und dreckigen Jobs an den Fließbändern der Welt würden ersetzt durch hehre Dienste am Kunden. So feierte der Soziologe Jean Fourastié die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft als Weg zur Humanisierung der Arbeit, sowie Aufblühen von Bildung und Kultur durch eine höhere Beschäftigungsquote und steigenden Wohlstand und sozialer Sicherheit. [1]
Die naive Vision von Jean Fourastié ist mittlerweile von der Realität als Träumerei entlarvt worden. Zwar hat die Verlagerung auf den Dienstleistungssektor die Zahl der Erwerbstätigen tatsächlich ansteigen lassen. Die vermeintlich zusätzliche Beschäftigung geht zum größten Teil jedoch auf die Umwandlung von Vollzeitarbeitsplätzen in Teilzeitstellen und Minijobs zurück. [2]
Und entgegen der weltfremden Vorstellung von Jean Fourastié werden heute natürlich auch die Servicejobs den Anforderungen der Produktivität unterworfen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Pflege, wo die einzelnen Pflegeleistungen mit der gesetzlichen Krankenkasse abgerechnet werden und minutiös vorgegeben sind.
In den Jahren von 2010 bis 2012 haben Friederike Bahl und Philipp Staab vom Hamburger Institut für Sozialforschung unter Leitung des Soziologen Heinz Bude Dienstleistungsbranchen wie Discounter und Textilgeschäfte, Postzusteller sowie Pflegedienstleister untersucht. Die Soziologen kamen damals zu dem Ergebnis, dass in Deutschland wieder ein Proletariat existiert. Es ist gekennzeichnet durch geringe Entlohnung, wenig bis keine soziale Absicherung und sehr geringer gesellschaftliche Anerkennung. Unter anderem beklagten die Autoren der Studie, dass die betroffenen Arbeitnehmer häufig ohne tarifliche Bindung arbeiten und nur halb so oft gewerkschaftlich organisiert sind wie ihre Kollegen in der Industrie. [3]
Die moderne Dienstleistungsarbeit teilt zudem mit der übermäßigen Körperlichkeit ein Merkmal der Arbeitsplätze des ehemaligen Industrieproletariats. In Bereichen die keine spezielle Qualifikationen und kaum Einarbeitung erfordern, ist die Leistungsfähigkeit des Körpers oft das Einzige, was der Arbeitgeber von seinen Mitarbeitern wirklich benötigt. Das System funktioniert, da jeder körperlich funktionsfähige Mensch, der über Basisqualifikationen wie Beherrschung der Sprache in Wort und Schrift verfügt, sofort anfangen kann. Der Arbeitgeber verfügt damit über eine scheinbar unerschöpfliche Reserve beinahe beliebig austauschbarer Arbeitskräfte.
Mangelhafte Organisation und systemimmanenter Pfusch
Auf der organisatorischen Ebene kennzeichnet sich die Arbeit im Bereich der einfachen Dienstleistungen oft durch mangelnde Struktur. Die Unternehmensleitung macht realitätsfremde Vorgaben und ist für den einfachen Mitarbeiter bei konkreten Rückfragen und nützlichen Verbesserungsvorschlägen nicht erreichbar. Stattdessen hängen die Beschäftigten von ihrem kaum besser bezahlten und chronisch überlasteten Schicht- oder Filialleiter ab, welcher oft für die Führungsrolle nicht einmal ausreichend qualifiziert ist. So sehen sich viele Servicedienstleister im Alltag konstant einem für sie unlösbaren Dilemma ausgesetzt: Wer sich regelkonform verhält, ist nicht schnell genug, um die Vorgaben zu erfüllen. Wer nicht vom Arbeitgeber genehmigte Hilfsmittel einsetzt und Prozesse unerlaubt modifiziert, muss sich im Falle eines Schadens und ggf. folgenden Rechtsstreits gegenüber dem Arbeitgeber und evtl. geschädigten Personen verantworten.
Um die auf Seiten des Arbeitgebers bestehenden strukturellen Defizite zu kompensieren, wird von den Mitarbeitern unter anderem ein absurdes Maß an Flexibilität gefordert. Dies lässt meist nicht nur keine Lebensplanung, sondern oft tatsächlich noch nicht einmal eine vernünftige Tagesplanung zu. So werden die Dienstpläne üblicherweise sehr kurzfristig erstellt und sind zudem immer wieder spontanen Änderungen unterworfen. Außerdem gehen viele der einfachen Dienstleistungsjobs mit enormen körperlichen Belastungen einher und die Arbeitnehmer spüren nach einigen Jahren den körperlichen Verschleiß deutlich. Eigene Zukunftspläne, die eine gewisse körperliche Leistungsfähigkeit voraussetzen, sollten besser nicht allzu lange aufgeschoben werden.
Gig-Economy – Die Uberisierung der Arbeitswelt
Die von Friederike Bahl und Philipp Staab beklagten Zustände erscheinen im Rückblick fast schon wieder goldig, denn mittlerweile erreicht das Ausmaß der Zumutungen an die Menschen im Dienstleistungsgewerbe eine zum Studienzeitpunkt ungeahnte Dimension. Hatten die Dienstleister in der Vergangenheit wenigstens noch einen –wenn auch miserablen- Arbeitsvertrag, so haben die Dienstleister der Gig Economy oft nicht einmal mehr das.
Die Unternehmen stellen dem Freelancer von heute bestenfalls noch eine App zur Verfügung, welche auf dem Smartphone zu installieren ist und die eingehenden Aufträge koordiniert. Alle Arbeitsmaterialien sind vom freien Mitarbeiter selbst anzuschaffen und bei Verlust oder Beschädigung zu ersetzen. Das eigene Fahrrad/ Auto und ein Smartphone (inkl. Nutzung des eigenen Datenvolumens) sind fast immer notwendige Voraussetzung zur Teilhabe an der Erbringung der ubersierten Dienstleistung. Ironischer weise ist somit zu Beginn der Scheinselbstständigkeit ein gewisser Wohlstand notwendig, um an der Selbstausbeutung teilnehmen zu können.
Bezahlt werden Freelancer nicht selten auf Provisionsbasis, also pro abgearbeiteten Auftrag, nicht nach dafür benötigter oder insgesamt verbrachter Zeit. In der Food Delivery Branche waren das bei einem für Deliveroo fahrenden freien Mitarbeiter Mitte des Jahres 2017 z.B. fünf Euro pro Lieferung. Kommen dann nicht sofort weitere Aufträge herein, können diese fünf Euro auch mal dem Stundenlohn entsprechen. [4]
Stand: Juni 2019
[1] Jean Fourastié: Le Grand Espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social. Presses Universitaires de France, Paris 1949 = Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Köln 1954.
[2] https://deutschlandreform.tumblr.com/post/166708796453/die-meldungen-vom-deutschen-jobwunder-sind
[3] https://www.his-online.de/forschung/projektdetail/projects/227/
[4] https://taz.de/Arbeitsbedingungen-bei-Foodora-und-Co/!5428832/
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Die naive Vision von Jean Fourastié ist mittlerweile von der Realität als Träumerei entlarvt worden. Zwar hat die Verlagerung auf den Dienstleistungssektor die Zahl der Erwerbstätigen tatsächlich ansteigen lassen. Die vermeintlich zusätzliche Beschäftigung geht zum größten Teil jedoch auf die Umwandlung von Vollzeitarbeitsplätzen in Teilzeitstellen und Minijobs zurück. [2]
Und entgegen der weltfremden Vorstellung von Jean Fourastié werden heute natürlich auch die Servicejobs den Anforderungen der Produktivität unterworfen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Pflege, wo die einzelnen Pflegeleistungen mit der gesetzlichen Krankenkasse abgerechnet werden und minutiös vorgegeben sind.
In den Jahren von 2010 bis 2012 haben Friederike Bahl und Philipp Staab vom Hamburger Institut für Sozialforschung unter Leitung des Soziologen Heinz Bude Dienstleistungsbranchen wie Discounter und Textilgeschäfte, Postzusteller sowie Pflegedienstleister untersucht. Die Soziologen kamen damals zu dem Ergebnis, dass in Deutschland wieder ein Proletariat existiert. Es ist gekennzeichnet durch geringe Entlohnung, wenig bis keine soziale Absicherung und sehr geringer gesellschaftliche Anerkennung. Unter anderem beklagten die Autoren der Studie, dass die betroffenen Arbeitnehmer häufig ohne tarifliche Bindung arbeiten und nur halb so oft gewerkschaftlich organisiert sind wie ihre Kollegen in der Industrie. [3]
Die moderne Dienstleistungsarbeit teilt zudem mit der übermäßigen Körperlichkeit ein Merkmal der Arbeitsplätze des ehemaligen Industrieproletariats. In Bereichen die keine spezielle Qualifikationen und kaum Einarbeitung erfordern, ist die Leistungsfähigkeit des Körpers oft das Einzige, was der Arbeitgeber von seinen Mitarbeitern wirklich benötigt. Das System funktioniert, da jeder körperlich funktionsfähige Mensch, der über Basisqualifikationen wie Beherrschung der Sprache in Wort und Schrift verfügt, sofort anfangen kann. Der Arbeitgeber verfügt damit über eine scheinbar unerschöpfliche Reserve beinahe beliebig austauschbarer Arbeitskräfte.
Mangelhafte Organisation und systemimmanenter Pfusch
Auf der organisatorischen Ebene kennzeichnet sich die Arbeit im Bereich der einfachen Dienstleistungen oft durch mangelnde Struktur. Die Unternehmensleitung macht realitätsfremde Vorgaben und ist für den einfachen Mitarbeiter bei konkreten Rückfragen und nützlichen Verbesserungsvorschlägen nicht erreichbar. Stattdessen hängen die Beschäftigten von ihrem kaum besser bezahlten und chronisch überlasteten Schicht- oder Filialleiter ab, welcher oft für die Führungsrolle nicht einmal ausreichend qualifiziert ist. So sehen sich viele Servicedienstleister im Alltag konstant einem für sie unlösbaren Dilemma ausgesetzt: Wer sich regelkonform verhält, ist nicht schnell genug, um die Vorgaben zu erfüllen. Wer nicht vom Arbeitgeber genehmigte Hilfsmittel einsetzt und Prozesse unerlaubt modifiziert, muss sich im Falle eines Schadens und ggf. folgenden Rechtsstreits gegenüber dem Arbeitgeber und evtl. geschädigten Personen verantworten.
Um die auf Seiten des Arbeitgebers bestehenden strukturellen Defizite zu kompensieren, wird von den Mitarbeitern unter anderem ein absurdes Maß an Flexibilität gefordert. Dies lässt meist nicht nur keine Lebensplanung, sondern oft tatsächlich noch nicht einmal eine vernünftige Tagesplanung zu. So werden die Dienstpläne üblicherweise sehr kurzfristig erstellt und sind zudem immer wieder spontanen Änderungen unterworfen. Außerdem gehen viele der einfachen Dienstleistungsjobs mit enormen körperlichen Belastungen einher und die Arbeitnehmer spüren nach einigen Jahren den körperlichen Verschleiß deutlich. Eigene Zukunftspläne, die eine gewisse körperliche Leistungsfähigkeit voraussetzen, sollten besser nicht allzu lange aufgeschoben werden.
Gig-Economy – Die Uberisierung der Arbeitswelt
Die von Friederike Bahl und Philipp Staab beklagten Zustände erscheinen im Rückblick fast schon wieder goldig, denn mittlerweile erreicht das Ausmaß der Zumutungen an die Menschen im Dienstleistungsgewerbe eine zum Studienzeitpunkt ungeahnte Dimension. Hatten die Dienstleister in der Vergangenheit wenigstens noch einen –wenn auch miserablen- Arbeitsvertrag, so haben die Dienstleister der Gig Economy oft nicht einmal mehr das.
Die Unternehmen stellen dem Freelancer von heute bestenfalls noch eine App zur Verfügung, welche auf dem Smartphone zu installieren ist und die eingehenden Aufträge koordiniert. Alle Arbeitsmaterialien sind vom freien Mitarbeiter selbst anzuschaffen und bei Verlust oder Beschädigung zu ersetzen. Das eigene Fahrrad/ Auto und ein Smartphone (inkl. Nutzung des eigenen Datenvolumens) sind fast immer notwendige Voraussetzung zur Teilhabe an der Erbringung der ubersierten Dienstleistung. Ironischer weise ist somit zu Beginn der Scheinselbstständigkeit ein gewisser Wohlstand notwendig, um an der Selbstausbeutung teilnehmen zu können.
Bezahlt werden Freelancer nicht selten auf Provisionsbasis, also pro abgearbeiteten Auftrag, nicht nach dafür benötigter oder insgesamt verbrachter Zeit. In der Food Delivery Branche waren das bei einem für Deliveroo fahrenden freien Mitarbeiter Mitte des Jahres 2017 z.B. fünf Euro pro Lieferung. Kommen dann nicht sofort weitere Aufträge herein, können diese fünf Euro auch mal dem Stundenlohn entsprechen. [4]
Stand: Juni 2019
[1] Jean Fourastié: Le Grand Espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social. Presses Universitaires de France, Paris 1949 = Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Köln 1954.
[2] https://deutschlandreform.tumblr.com/post/166708796453/die-meldungen-vom-deutschen-jobwunder-sind
[3] https://www.his-online.de/forschung/projektdetail/projects/227/
[4] https://taz.de/Arbeitsbedingungen-bei-Foodora-und-Co/!5428832/
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